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Balkan Beats Etappe 1

Reisen heißt immer auch Zeit-reisen, und das gilt in vielerlei Hinsicht. Historisch, denn man bewegt sich durch Epochen, deren Ausrichtungen u.a. an Gebäuden zu erkennen sind. Trieste beispielsweise war wie eine kleine Zeitreise durch diesen politisch so bewegten Teil Europas, der in den letzen 200 Jahren allerlei Umbrüchen und Machthabern ausgesetzt war. Zuletzt kamen sie aus Rom und Belgrad, waren erst Mussolinis Faschisten, dann Titos Partizanen, schließlich Italiens Demokratie.

Es ist eine politisch/historische Zeitreise, die meine Reise begleiten wird und spätestens in Mazedonien sowie Griechenland von noch viel länger zurückliegenden historischen Zeitreisen flankiert wird. Darin die Kontinuität und die Brüche zu erkennen erhoffe ich mir von meiner ganz persönlichen Zeitreise auf dem Rad, die gestern um 13:04 Uhr in Trieste endlich losging. 

Nach all dem Trouble wegen Bahnstreik und völlig unsicherer Anreise nach Verona legte sich die Aufregung und machte einer neuen Platz: der Aufregung des Unterwegs-Seins. Und wieder war es eine Zeitreise, denn in der Gegenwart war kein Raum mehr für das gestern (München) und selbst nicht mehr das  heute morgen (Verona). Es war nur das "jetzt", und vielleicht ist auch das eines dieser vielen Geschenke, das einem das Reisen per Fahrrad macht: weil man jeden Meter mit Muskelkraft zurücklegen muss, ist die Gegenwart regelrecht körperlich präsent.


Nun aber genug der pseudophilosophischen Labereien und hinein in die harten Fakten: 58,9 Kilometer, 699 Höhenmeter, rund 35 Grad Celsius und ungezählte Autos, Scooter, Lastwagen und Busse. Dazu zwei Grenzübergänge, wobei ich bei einem sogar einer gelangweilen Blondine meinen Pass zeigen musste (Slowenien, Ausreise) und niemand die Wörter "Covid", "Corona" oder "Impfnachweis" in den Mund nahm.

Das Herausfahren aus Trieste war wild, und mein Navi schwitzte mindestens so wie ich. Und wenn man hektisch ist, macht man bekanntlich auch Fehler. Das gilt offenbar auch für Seele eines Navi-Gerätes, denn mehr als einmal kam die Meldung "Streckenabweichung", obwohl ich auf dem richtigen Weg war. Als mich das Gerät dann erst einen steilen Anstieg hochschickte, um nach 300 Metern bei 12 Prozent wieder eine Streckenabweichung meldete (und diesmal Recht hatte), zog ich leicht genervt Komoot zur Unterstützung hinzu und navigierte fortan mit Menschenverstand statt dickköpfigem GPS-Schergen. Und siehe da: es ging ohne Verfahren weiter!

Der Verkehr war wild, und die Landschaft versteckte ihre Reize zunächst erfolgreich hinter lärmenden Autobahnen, stinkenden Industrierevieren und pickepackevollen Überlandstraßen. Eine fröhliche und entspannte Radrunde sieht sicher anders.

Kurz hinter Koper ging es dann landeinwärts eine Passstraße hoch, die mir den Unterschied zwischen einem Fahrrad mit Gepäck und einem ohne aufzeigte. Ohne wäre es eine fröhliche Auffahrt gewesen, mit war es eine langsame Quälerei. Immerhin war die rechte Fahrspur für Autos gesperrt, so dass ich entspannt im Schneckentempo die etwa 250 Höhenmeter hochkriechen konnte. Oben angekommen hockte ich mich erstmal ausgepumpt in den Schatten und schnappte nach Luft und Wasser, als wie aus dem Nichts ein Rennradler auftauchte und fragte, ob alles okay sei. War es, ja danke, und er verstand zu gut, dass das mit dem Gepäck ein anderes Radelerlebnis ist, als mit dem Rennrad. Wobei auch er ein Handikap hatte, wie ich erfuhr. Seit einem leichten Schlaganfall kann er die linke Körperhälfte nur noch mit halber Kraft einsetzen. "Die meiste Kraft erzeuge ich mit dem rechten Bein", sage er und gewann meinen Respekt.


Nach einer herrlich langen Abfahrt (DA ist das Gepäck dann wieder hilfreich) enterte ich bei Dragonj mit Kroatien das dritte Land des Tages und konnte nach einem letzten Zwei-Kilometer-Anstieg endlich auch die dichtbefahrene Überlandpiste verlassen. Ein Segen für Ohren, Gemüt und Sicherheitsgefühl. Über schlafende Dörfer wie Grambocj, Kršete und Brtonigla kurbelte ich durchs tiefenentspannte Hinterland, sah überall deutsche Autos vor Ferienwohnungen und rollte, inzwischen spürbar angeschlagen von Hitze und überraschend vielen bissigen Hügeln, schlussendlich hinunter nach Novigrad.

Der erste Campingplatz bestand den Stresstest nicht, weil zu fünfsternig und nobel, der zweite räumte auf allen Positionen Höchstnoten ab und wurde zur Heimat für zwei Nächte. Und ich geb gerne zu, dass ich ganz schön im Arsch war, was nicht zuletzt dem Start in Trieste mitten in der Mittagshitze zuzuschreiben war.


Nun kommt die Seele langsam nach (die braucht auf Reisen ja immer etwas länger), ich lerne Wörter wie "bok", "Žbogom" und "Hvala" richtig zu betonen und ernte damit stets ein Lächeln bei den Einheimischen, die allesamt kompetent zwischen Deutsch, Italienisch und Englisch parlieren, während sie ihr Kroatisch nur unter sich brauchen. Auch eine Welt, die einem beim Reisen begegnet: die Wirkung des Geldes bzw. des Reichtums. Dazu passt ein Gespräch, das ich heute morgen auf dem Camping belauschte, als sich die Besitzer zweier Mega-Wohnmobile beklagten, dass sie ihre Gefährte nur zwei Wochen im Jahr bewegen können, weil ansonsen die Arbeit ansteht. Fahrzeuge für 100.000 Euro+, die 50 Wochen im Jahr sinnlos auf dem Hof stehen...

Ich finde, da sieht man als Radreisender mit Minizelt und etwa 15 Kilogramm Zuladung irgendwie schnittiger aus, nicht wahr?


Morgen gehts weiter. Ziel ist Rovinj, keine 52 Kilometer entfernt. Die ersten beiden Wochen meiner Tour sind nämlich auch ein bisschen Urlaub am Meer mit kürzeren Radtouren dazwischen. Insofern wird es auch nicht jeden Tag einen Reisebericht geben, weil zum Urlaubmachen nunmal auch ne Onlinepause gehört. In diesem Sinne, stay tuned auf diesem Kanal, euer hardy cyclist

Leicht aus der Puste nach dem Megaanstieg
Leicht aus der Puste nach dem Megaanstieg

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