Enthemmte Leidenschaft

Kann man Diego Maradona ohne die argentinische Seele, ohne Buenos Aires verstehen? Nein, das kann man nicht.

 

(Von Hardy Grüne)

 

13 Millionen Einwohner. Ein Häusermeer ohne Anfang und ohne Ende, im wahrsten Sinne des Wortes uferlos. Der Großraum Buenos Aires ist ein Kosmos. Ein Kosmos der Vielfalt, der Extreme. Und zugleich die Stadt mit der weltweit höchsten Rate von Psychologen im Verhältnis zur Einwohnerzahl. Die Porteños, wie die Einwohner von Buenos Aires genannt werden, zaudern, hadern und leiden eigentlich immer mit sich und ihrem Schicksal. Zu den Orten, an denen sie Entspannung finden, gehören Fußballstadien. In der Cancha des eigenen Klubs findet die ganze Seelenpein ihre Entladung. Im Kollektiv wirft man alle Sorgen ab und swingt sich durch das leichte Leben. Die Identifikation mit dem Klub ist unvergleichlich. Kaum vorstellbar, dass sich ein argentinischer Fan jemals von ihm abwendet. Die Liebe steckt im Blut, sie ist unauflöslich. Und sie reicht weit über den Spieltag hinaus.

Diego Armando Maradona lebte diese Liebe. Er war Weltklassefußballer, vor allem aber war er Fan. Tobte bei Weltmeisterschaften auf der Tribüne, wenn Argentinien spielte, und zeigte dem Gegner mit entrücktem Blick den Mittelfinger. Hockte mit nacktem Oberkörper auf der Balustrade der VIP-Loge seines Herzensvereins Boca Juniors und wirbelte das blau-gelbe Trikot durch die Luft. Füllte sein Fansein mit jener fast kindlichen Naivität, die ihn auszeichnete und die so typisch ist für südamerikanische Fußballfans. Hinchas werden sie genannt. Das geht zurück auf das Verb hinchar, „aufblasen“. Genau das tut man auf den Plateas von Buenos Aires, den Stehtraversen der wohl verrücktesten Fußballmetropole der Welt: sich mit grenzenloser und selbstverliebter Hingabe aufblasen.

Das Herz dieser Fußball-Liebe schlägt im Barrio, dem Stadtviertel oder Kiez. Für die Porteños ist der Barrio weit mehr als ein Wohnort. Er ist Heimat, er schenkt Zusammenhalt und Identität, in ihm ruhen die Wurzeln der Familie. Und der Fußballklub des Barrio ist sein Repräsentant. 80 Profimannschaften gibt es im Großraum Buenos Aires. Sein Team wird einem in die Wiege gelegt von der Familie, die seit Generationen genau diesem Verein folgt. Selbst wenn man sich nichts aus Fußball macht, gilt soy Boca – „Ich bin Boca, weil meine Familie Boca ist“. Würde man in die Stammbäume der Hinchas schauen, ergäben sich häufig Verbindungen zur Gründergeneration der Klubs. Als die Migranten, in großer Zahl vor allem aus Italien und Spanien, Ende des 19. Jahrhunderts im Hafen von La Boca anlegten, entstanden die heutigen Barrios, in deren Mitte stets ein Fußballfeld lag. Zwischen 1897 und 1914 wurden sämtliche populären Klubs im Großraum Buenos Aires gegründet. Es waren familiäre Bündnisse mit großem Zusammenhalt, entstanden, um den hunderttausenden Neuankömmlingen eine erste Heimat in der Fremde zu geben. Die daraus entstehende Kraft trug die Klubs durch sämtliche Höhen und Tiefen – sei es sportlich, wirtschaftlich oder politisch. Noch heute stellen Fußballvereine vor allem in weniger gut beleumundeten Barrios und Vorstädten wie Chacarita, Florencio Varela, Dock Sud/Isla Maciel oder La Boca die Zentren des sozialen Lebens dar. Oft sind sie der einzige kommunale Anlaufpunkt und damit wichtigster Anker im Barrio. Denn Fußball hat die Kraft, Menschen unterschiedlicher Herkunft, Berufe, politischer Einstellung, Religion und Geschlecht zu verbinden, womit er das vielleicht letzte Refugium neben den Resten der (noch) nicht kommerzialisierten Musik ist, in dem die Liebe zum Objekt wichtiger ist als Geld.

Fußball bedeutet den Porteños alles. Schauen wir aus unserem westeuropäischen Blickwinkel auf Südamerikas Fußball, sehen wir Fanatismus, Gewalt, Uferlosigkeit, Korruption, politische Infiltration und enthemmte Leidenschaft. Und schütteln die Köpfe, weil wir nicht verstehen, was wir sehen. Wer das möchte, muss zunächst das hiesige Sicherheitsdenken ablegen. Denn es braucht Leichtigkeit, Mut und Offenheit, um Zugang zu finden zu dem, was den Fußball in Buenos Aires befeuert. Die Stadt ist keine stolze Metropole wie London oder Barcelona, in der man sich selbstbewusst über Touristen aus aller Welt freut. In Buenos Aires gehen Besucher unter im Alltagsleben, ist der Überlebenskampf überall spürbar, spätestens, sobald man die Glitzerfassaden der Innenstadt (Microcentro) verlässt. Es gibt weder nennenswerte Sehenswürdigkeiten noch berühmte Museen oder Opernhäuser. Das Stadtzentrum ist anstrengend hektisch, die Fußgängerzone nüchtern sachlich. Den Fotoapparat kann man getrost daheim lassen. Was man hingegen findet, und zwar überall, ist der Fußball. So viele Fußballsouvenirshops wie in Buenos Aires gibt es nicht mal in London, der selbsternannten Kulturhauptstadt des Fußballs. Und welch einzigartige Dimension und Ausdehnung Fußball in Buenos Aires erreicht, erkennt man daran, dass die Läden keineswegs nur Fanartikel der Weltklubs Boca und River im Angebot haben, sondern auch Devotionalien von Vereinen wie All Boys, Temperley oder Almirante Brown, deren Namen die meisten Europäer wohl noch nie gehört haben.

 

Buenos Aires ist auch keine Stadt der Mode oder der Eleganz. Wer hier lebt, legt nicht viel Wert auf Pomp und schicke Kleidung. Praktisch muss sie sein, und in den langen und heißen Sommern heißt das bei Männern meistens Baggy- oder Sport-Shorts und ausgeleiertes T-Shirt. Das sieht nicht immer schön aus. Auch die Umgangsformen sind gewöhnungsbedürftig. Mit ihrer oft rüpelhaften Art verschrecken die Porteños kulturbeflissene Besucher aus der Alten Welt, die sich über die rauen Sitten auf den Straßen und in Bus und U-Bahn aufregen. Buenos Aires ist weder eine reiche Metropole, noch lebt sie von einem kulturellen Mythos oder pflegt irgendeinen Stil. Dafür hat sie Charme, ist sie vor allem eine Ansammlung von 13 Millionen Seelen, die nach ihrem ganz persönlichen Glück suchen (womit wir wieder bei den vielen Psychologen der Stadt sind) und deren Alltag oft voller Sorgen ist. Viele Porteños haben (zu) wenig zum Leben, das Bildungsniveau ist gering und die Ellenbogen geben Schutz im Menschenmeer.

Nahezu täglich gibt es irgendwo Fußballspiele in einer der vier Profiligen, die unter der Woche um 15 oder 16 Uhr angepfiffen werden und trotzdem Tausende von Zuschauern anlocken. Das mag erstaunen, doch rasch versteht man, dass die Porteños alles stehen und liegen lassen, wenn die eigenen Farben auflaufen. Die eigene Anwesenheit ist dann schlicht alternativlos. In Buenos Aires lässt sich Fußball nicht vom Alltag trennen, ist er für die Hinchas kein Freizeitvergnügen; schon gar nicht Event. Zwar gibt es auch Klubs in den schicken Vierteln wie Rivers Heimat Núñez, doch wirklich interessant wird es bei den Teams aus den berüchtigten Barrios oder gar den slumartigen Villas Miserias (frei übersetzt: Elendsviertel). Letztere dehnen sich vor allem südlich des bis an die Ekelgrenze verdreckten Kanals Riachuelo aus, der die Kernstadt Buenos Aires (Capital Federal) vom Großraum (Gran Buenos Aires) trennt. Dort ist der Alltag geprägt vom täglichen Überlebenskampf, bietet Fußball winzige Oasen der Leichtigkeit, des Stressabbaus und der Gemeinschaftserfahrung. Die Intensität, mit der Fußball dort auf Rasen wie Rängen gelebt wird, ist bewegend und verrät viel über den Lebensalltag in der Millionenmetropole.

Diego Armando Maradona wurde am 30. Oktober 1960 in einem solchen Umfeld geboren. Das Barrio Villa Fiorito liegt unmittelbar südlich des Riachuelo. Es gilt zwar als Villa Miseria, doch es gibt schlimmere Gegenden in Buenos Aires. Villa Fiorito ist ein typisches, leicht chaotisches Wohnviertel mit einfachen, eingeschossigen Häusern oder Hütten zumeist ohne Wasseranschluss. Das Leben findet auf der Straße statt. Maradonas Eltern, der 1927 geborene Vater Diego „Chitoro“, indigener Guaraní, und die 1930 geborene Mutter Dalma „Doña Tota“, kroatische Wurzeln, waren 1955 aus der Stadt Esquina in der nordöstlichen Provinz Corrientes auf der Suche nach einem besseren Leben nach Buenos Aires gekommen. Es gab sechs Geschwister – vier ältere Schwestern, zwei jüngere Brüder, die später auch Fußball spielten. „Ich erinnere mich gern an meine Kindheit“, schreibt Maradona in seiner Biografie „El Diego. Mein Leben“, „auch wenn ich Villa Fiorito, das Viertel, in dem ich geboren und aufgewachsen bin, mit einem einzigen Wort beschreiben muss: Kampf. Wenn man in Villa Fiorito zu essen hatte, hat man gegessen, und wenn nicht, dann eben nicht.“ Das Leben auf der Straße war rau. Zuwanderer aus dem ländlichen Landesinneren wurden cabecita negra, Schwarzköpfchen, genannt. Das Schimpfwort gab Maradona Identität: „Ich habe nichts dagegen, dass man mich cabecita negra nennt, denn ich habe meinen Ursprung nie verleugnet. Ja, ich bin ein cabecita negra. Wo ist das Problem?“

Trotz schwieriger Umstände umgibt Maradonas Kindheit eine fast naive Leichtigkeit. Das Elternhaus an der Calle Azamor 523 war gemauert und keine Blechhütte, die Familie groß und liebevoll. La familia ist zentral im Leben eines Argentiniers. Die verwandtschaftlichen Verbindungen bilden ein riesiges soziales Netzwerk, Kinder werden abgöttisch geliebt und jedes Familienmitglied hat seine Funktion. Für Diego waren neben seinen Eltern vor allem Tante Ana (Schwester seiner Mutter), Mama Dora (Großmutter mütterlicherseits) sowie die Brüder Lalo und Turco wichtig. Er wuchs als Familienmensch auf, der er bis zu seinem Tod blieb. Die Verbindung zu seinen Töchtern Dalma (heute 33) und Giannina (31), die aus seiner Ehe mit Jugendfreundin Claudia Villafañe (Scheidung 2003) stammen, lebte er zwar nicht immer gelungen, aber dennoch stets mit der ihm eigenen Intensität. Dass er Vater von sechs weiteren Kindern mit sechs verschiedenen Frauen war, gab Maradona allerdings erst viele Jahre später zu, nachdem er lange behauptet hatte, es gäbe keine unehelichen Kinder.

Fußball ist in den Barrios vor allem für die Jungs existenziell. Gekickt wird immer und überall. Weil es kaum Freiflächen gibt, wird vor allem auf der Straße gespielt. Selbst Bälle gibt es nicht immer. Diego bekam seinen ersten im Alter von drei Jahren von einem Cousin. Er musste häufig mit anderen Dingen üben, was seinen Fähigkeiten am Ball noch weiter zugutekam. Maradona wuchs auch nicht, wie viele Talente heute, mit einem Vater im Rücken auf, der aus ihm einen Profi machen wollte. Im Gegenteil. Vater Don Diego schuftete von vier Uhr in der Früh in einer Mühle. Wenn mal etwas Geld übrig war, kaufte er Diego neue Schuhe und verprügelte ihn, wenn er damit Fußball spielte. „Mein Papa hatte nicht die Zeit, mir zu sagen: ‚Komm her, komm, ich will dir das mal erklären‘, wie ich das heute zu Dalma oder Giannina sagen kann“, schreibt Maradona: „In Wahrheit hat es mir dank meinem Vater nie an Essen gefehlt. Deshalb hatte ich kräftige Beine, wenn ich auch etwas schmächtig war.“

Maradonas Karriere ist auch darum so mitreißend: Sie entstand nicht am Reißbrett.

Als Maradona um die Sechs ist, sie nennen ihn wegen seines Lockenkopfes Pelusita (Fusselchen), zeigt sich sein rares Talent auf einer staubigen Brachfläche hinter dem Elternhaus. Zu den Siete Canchitas (Sieben Spielfelder) gehören die Bolzplätze von Estrella Roja (Roter Stern), für den sein Vater einst gespielt hatte, und von Tres Banderas (Drei Streifen), einem Team, bei dem der Vater seines Freundes Goyo Carrizo spielt. Maradona kickt, weil er Fußball liebt, er kickt aber auch, weil es in Villa Fiorito nichts anderes gibt. Und weil das Leben im Barrio nicht ungefährlich ist. Denn ruckzuck landet man in den falschen Kreisen. In den rauen Barrios von Buenes Aires wird bis heute zu früh gestorben. Seine Liebe zum Fußball weist Maradona den Weg aus der Gefahr. Es ist dieses Bauchgefühl, das ihn später oft auszeichnete, viel zu häufig aber auch austrickste.

Als sein Freund Goyo Mitte 1969 zum Probetraining bei den Argentinos Juniors fährt, kommt Diego mit und darf ebenfalls vorspielen. Es ist sein erster größerer Ausflug in das Herz der Millionenstadt. Das Stadion von Los Bichos (Die Käfer) im gutbürgerlichen Stadtteil La Paternal liegt 15 Kilometer von Villa Fiorito entfernt und ist eine kleine Weltreise. „Schon die Fahrt dorthin war ein Abenteuer“, schreibt er in seiner Biografie. „Von Fiorito aus stiegen wir in den Grünen, so nannten wir den 28er, und in Pompeya nahmen wir den 44er bis nach Las Malvinas, wo Argentino Juniors im Tronador y Bauness trainierten.“ Die Schilderung seiner ersten Kontaktaufnahme mit dem „großen“ Fußball, mit dem Spiel jenseits der Straßenkickerei, vermittelt einen Eindruck von Bodenständigkeit und einfachen, fast schon romantischen Lebensverhältnissen. Weil Maradona selbst auf dem Zenit seiner Popularität und seines Reichtums sich nie von seinen Wurzeln in Villa Fiorito distanziert hat und die Verbindung zur dortigen Lebenswelt nie kappte, hat er sich tief in die Herzen der Argentinier eingegraben, die ihn ohne Umschweife als einen der Ihren akzeptierten.

Dass er bei Argentinos Juniors landet, hat etwas Zufälliges. Der Vater ist Fan von Corrientes, dem Team seiner Heimatstadt 620 Kilometer entfernt von Buenos Aires. Der von Villa Fiorito aus nächstgelegene Topklub ist Lanús. Ein für argentinische Verhältnisse bemerkenswert nachhaltig geführter Familienklub. Auch Banfield ist nicht weit; ebenso San Lorenzo, der Klub des aktuellen Papstes, sowie Independiente und Racing. Doch in den späten 1960er-Jahren gibt es nur ein rudimentäres Scouting, wird selbst ein Juwel wie Maradona zunächst übersehen. Erst als er das erste Mal bei Los Bichos vorspielt, wird klar, was für ein ungewöhnliches Talent in ihm steckt. Ein Glücksfall für Maradona, denn Argentinos Juniors ist ein solide geführter Verein mit einer starken Akzentuierung auf die Nachwuchsarbeit. Dafür steht Francisco Gregorio Cornejo, genannt „Francis“, der eine los cebollitas (die kleinen Zwiebeln) genannte Jugendmannschaft ins Leben gerufen hat, zu der sich nun auch Maradona gesellt. Erst mit 14 darf er in einer regulären Mannschaft des Vereins spielen. Los Bichos sind ein perfekter Start für den kleinen Mann auf dem Weg zum Fußballgott.

Die Welt in La Paternal ist eine andere als die, die Maradona von Villa Fiorito kennt. Sie ist geprägt von mehrgeschossigen Wohnhäusern des feinen Wohlstandes. Wer in Buenos Aires Geld hat, zieht in ein Hochhaus. Politisch ist La Paternal ein bisschen links, fast einen Hauch revolutionär. Die Asociación Atlética Argentinos Juniors entstand 1904 in einem anarchistischen Buchladen im Nachbarbarrio Villa Crespo. Der Klub ist so ein bisschen der FC St. Pauli Argentiniens. Auch das passt zu Maradonas Lebensgeschichte: Fidel Castro wird später sein Freund – und zugleich knüpft er enge Bande mit Carlos Menem, dem neoliberalen und ziemlich korrupten argentinischen Präsidenten von 1989 bis 1999. Maradona konnte gleichzeitig in verschiedenen Welten sein.

Zunächst pendelt Diego zwischen Villa Fiorito und La Paternal. Erst in den grünen 28er nach Pompeya, dann weiter im 44er nach Las Malvinas. Las Malvinas – das sind die Falklandinseln, um die es 1982, während Maradona zum ersten Mal für Argentinien bei einer WM aufläuft, im Krieg mit England geht. Maradonas Leben ist voll mit solch erstaunlichen Zufällen. Heute ist die Haltestelle, an der er damals regelmäßig ausstieg, ein einziger Maradona-Schrein. Seine Name und sein Konterfei sind überall zu finden. Ein seltsamer Kontrast: Die gediegene Bildungsbürgerwelt und der Weltfußballer aus dem Elendsviertel. Der Gegensatz ist die Klammer, die die zahlreichen Lebensfacetten von Diego Armando Maradona zusammenhält.

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Im Juli 1970 ist er beim Ligaspiel zwischen Argentinos Juniors und Boca Juniors als Balljunge dabei. In der Halbzeitpause schickt ihn Jugendtrainer Francis aufs Spielfeld. Er soll ein bisschen jonglieren. Maradona ist neun und beherrscht die Lederkugel mit ergreifender Leichtigkeit. Sein Ballgefühl ist pure Transzendenz, und das Publikum lässt sich widerstandslos verzaubern von dem kleinen Lockenkopf mit dem unschuldigen Habitus. Die ersten klatschen rhythmisch, bald machen auch die Boca-Fans mit. Jeder spürt es: Das ist ein Pibe de Oro, ein Goldjunge. Maradona ist es fast ein bisschen peinlich, so alleine im Zentrum zu stehen. Doch er genießt die Aufmerksamkeit auch. Der kleine Junge aus dem Armenhaus. Und er verliebt sich in die Boca Juniors: „Ich glaube, damals begann ich das zu empfinden, was ich bis heute für Boca empfinde. Ich wusste damals schon, dass wir eines Tages aufeinandertreffen würden.“ Als die Mannschaften auf das Spielfeld zurückkommen, skandiert das ganze Stadion: „Er soll bleiben, er soll bleiben!“ Kurz darauf berichtet Pipo Mancero in der populären TV-Sendung Sábados Circulares von dem Jungen aus dem Armenviertel, der entschlossen in die Kamera spricht, dass er eines Tages mit Argentinien Weltmeister werden will.

Von nun an lebt Maradona den Traum aller Jungen aus den vielen Villas Miserias im endlosen Häusermeer von Buenos Aires. Gewinnt 1973 mit Los Cebollitas ein Jugendturnier mit einem 5:4 gegen River. Ein Jahr später fordern die ersten seinen Einsatz in der Ligamannschaft von Los Bichos. Sein väterlicher Freund und Trainer Francis weigert sich. Stattdessen wird Maradona, mit 14 endlich offiziell Vereinsspieler, erst B-Jugend-, dann A-Jugendmeister. Als River Plate bei Vater Don Diego anfragt, kommt die Absage: „Der kleine Diego ist sehr froh, bei Argentinos zu spielen.“ Am 20. Oktober 1976 debütiert Maradona wenige Tage vor seinem 16. Geburtstag schließlich in der Ligamannschaft gegen Talleres Córdoba. „Als der große Tag kam, herrschte eine mörderische Hitze. Jedenfalls hatte ich das so empfunden. Ich kam in der zweiten Hälfte für Giacobetti rein, mit der Nummer sechzehn auf dem Rücken und im roten Trikot mit dem weißen Querstreifen. Wie hat mir dieses Trikot gefallen! Es war wie das von River Plate … nur umgekehrt.“

Maradona ist auf dem Weg, die Fußballwelt zu verzaubern: „Ich sage immer, was den Fußball betrifft, habe ich an diesem Tag mit den Händen den Himmel berührt.“ Drei Monate später schickt César Luis Menotti, der Trainer der Landesauswahl, ihn zum ersten Mal im Nationaldress aufs Feld. Als er eingewechselt wird ruft das Publikum „Maradooó!“. Maradona: „Wie alles in meinem Leben ging auch das viel zu schnell.“

Sein Aufstieg geht einher mit dem Abschied aus Villa Fiorito. Vorbei ist es mit der Pendelei im 28er und 44er. An der Calle Argerich in La Paternal bezieht Maradona im Oktober 1976 eine Wohnung in einem typischen Vorstadthaus. Seine Eltern machen den sozialen Aufstieg des 15-Jährigen mit und ziehen ebenfalls um. Vor dem Haus steht nun ein roter Fiat 125. Die Welt von Villa Fiorito liegt hinter Maradona und seiner Familie: „Ich weiß nicht, es passierten eine Menge Sachen, eine völlig andere Welt, und das alles auf einmal.“ Und es geht weiter mit den „Sachen“. Im Vorderhaus wohnt die Familie Vallafañe: Vater Coco, Taxifahrer und Fan von Los Bichos, Mutter Pochi und Tochter Claudia. „Ich glaube, wir haben vom ersten Tag an ein Auge aufeinander gehabt“, schreibt Maradona.

1987 kommt die erste Tochter Dalma, zwei Jahre später wird Giannina geboren. Im selben Jahr heiraten Diego und Claudia in exzessivem und überschwänglichem Luxus, der mehr als zwei Millionen Dollar verschlingt, vor 1.200 Gästen und laufenden TV-Kameras im Luna Park. Bis 2003 bleiben sie ein Paar. Wie so vieles in seinem Leben ist die Ehe ein schwieriger Spagat für Maradona. Auf der einen Seite der kleine Junge aus dem Barrio, der es mit Glück, Geschick und Talent nach oben geschafft hat und voller Dankbarkeit und authentischer Bodenständigkeit zurückschaut. Auf der anderen Seite der viel zu junge Superstar, dessen Welt ein ständiges Blitzlichtgewitter ist und dem alle Türen offen stehen. Dessen Wege von falschen Freunden gekreuzt werden und der er sich ohne Netz und doppelten Boden in alles hineinstürzt, was ihm angeboten wird.

 

Maradona wird zur Verkörperung der tief sitzenden argentinischen Paranoia „der Schwache gegen die Starken“ und spätestens mit seinem Wechsel nach Neapel zum Stellvertreter Argentiniens in der Welt. Der Soziologe Pablo Alabarces schreibt in seiner Studie „Der Fußball und die Erfindung der argentinischen Nation“: „Maradona ist die Evita der neunziger Jahre. Einer der geliebten Proleten, ein Habenichts in Versace.“ Wie tief verankert er in seiner Herkunft bleibt zeigt sich 2005, zwei Jahre nach der Scheidung von Ehefrau Claudia. Seine neue Partnerin Verónica Ojeda kommt nicht etwa aus dem Jet-Set von Buenos Aires oder überhaupt aus der Welt der Reichen und Schönen, sondern aus Villa Fiorito. Maradonas Wiege, deren Lebenswelt er selbst als Multimillionär nie untreu wurde. Das spiegelte seine fundamentale Überzeugung, die politisch, aber nicht parteipolitisch war: die Armen gegen alle zu verteidigen, die sie zu beleidigen wagen. Denn Maradona wusste von den Sorgen, den Schmerzen und auch den Freuden des Volkes. Das machte ihn zur Ikone, die nahezu alle Argentinier vereinte.

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